
Vorwort
Shortcrimes ist mein Buzzword für Krimi-Kurzgeschichten aus der Welt des Kiran Mendelsohn und dem Lloyd‘s Pub & Diner.
Das Lloyd‘s ist die Stammkneipe von Kiran Mendelsohn, Protagonist aus meinem ersten Krimi Sibirischer Wind.
Hintergrund dieser Idee ist meine Angewohnheit, zu Figuren aus den Romanen nicht nur Profile oder Lebensläufe, sondern oft auch Kurzgeschichten um Personen, Team und zu einzelnen Settings oder Kapiteln zu schreiben. Und da dies nicht nur für mich eine spannende Übung ist, sondern auch dem Leser einen besseren Einblick und eine neue Perspektive bietet, werde ich diese kleinen Stories auf meinem Blog veröffentlichen.
Im Lloyd‘s begegnen sich Figuren aus den Romanen und treten mit anderen Charakteren in Interaktion. Das kann eine kleine Story um die Protagonisten sein, es kann ein Blick auf sie von anderen Figuren aus gesehen oder einfach eine erzählenswerte Alltagsszene sein – das Setting ist jedoch immer der Pub. Wie im Buch auch sind die Themen daher die gleichen, wie man sie aus der Stammkneipe kennt: Politik, Gesellschaft, Kultur, Essen, Trinken oder Sport. Und, immerhin verkehren hier Kiran plus Team, Verbrechen.
In der folgenden Geschichte erleben wir eine Szene aus dem Roman Sibirischer Wind, diesmal aus der Perspektive des Stammgasts Alistair Campbell gesehen.
Viel Spaß beim Lesen!
ENDSTATION HAGGIS
Ein klarer, angenehmer Wind wehte über das Paul-Lincke-Ufer. Mit ihm kamen die Gerüche des Frühlings, eine Mischung aus frischen Blütenknospen und verschiedensten Düften, die zusammen mit Musik und fröhlichen Unterhaltungsfetzen aus den geöffneten Fenstern drangen. Trotz des anbrechenden Abends lag auch noch eine gewisse Wärme in der Luft. Berlin erwachte aus dem Winterschlaf.
Alistair Campbell saß neben der Eingangstür zum Lloyd‘s Pub & Diner und rauchte seine Pfeife. Er ließ die Schwaden des Whiskytabaks entspannt in den Abendhimmel entweichen und trug so seinen Teil zum Geruchscocktail bei. Vorübergehende Passanten warfen freundliche Blicke auf ihn und das Entree der Kneipe. Mit seinem Backenbart und dem Tweed-Jackett hielten ihn viele für den Eigentümer des Pubs, wenn er hier draußen saß.
Das Lloyd‘s war Alistairs zweites Wohnzimmer, neben seinem Stammplatz an der Bar war der Hocker neben dem Eingang sein Ausguck, von dem aus er die Leute beobachtete, über die Welt sinnierte und nach neuen Themen suchte, mit denen er die Stammkundschaft an der Bar drinnen wahlweise unterhalten oder malträtieren konnte. Er tat dies mit einer solchen Regelmäßigkeit, dass man im Pub bereits für eine sitzende und pfeife rauchende Bronzestatue zu sammeln begonnen hatte, die man in ferner Zukunft neben dem Eingang platzieren würde.
Er war vor rund zehn Jahren nach Berlin gekommen, auf der Suche nach einem Ort, wo er sein ansehnliches Vermögen in aller Ruhe verprassen konnte. Als ausgewiesener Kosmopolit hätte er jeden Ort der Welt wählen können, aber an Berlin hatte er sein Herz verloren. Der Schotte in ihm mochte die Deutschen und ihre eher zurückhaltende Art, die an die gälischen Knurrhähne daheim in Inverness erinnerte. Dazu war Berlin kulturell und politisch hochinteressant. Schottland war da eher Provinz, wunderschön, aber eben am Arsch der Welt, London viel zu teuer und stressig, die USA schieden allein wegen ihrer kulturellen Rückständigkeit aus. Exotik hatte er in Asien und Australien zur Genüge gehabt.
Dann aber war er nach Berlin gekommen, das erste Mal seit den 60ern. Er hatte damals rein zufällig den Tag des Mauerbaus miterlebt und sich geschworen, diese geschichtsträchtige Stadt wieder zu besuchen. Die Gelegenheit bot sich schließlich Ende der 90er Jahre, als ihn ein japanischer Geschäftspartner in die Stadt eingeladen hatte. Gemeinsam hatten sie eine Dependance ihres Unternehmens aufgebaut und Alistair war dem rauen Berliner Charme erneut erlegen. Erstaunlich, wenn man bedachte, dass er nach Jahrzehnten in Asien eigentlich eine ganz andere Mentalität gewohnt war.
Alistair war in Hongkong geboren und groß geworden, hatte dort und in Edinburgh studiert, um dann nach Hong Kong zurückzukehren, den Betrieb seines verstorbenen Vaters zu übernehmen und komplett umzukrempeln. Fünf Jahre später gehörten ihm drei Restaurants, seine Fahrschule betrieb mehrere hundert Autos, dazu war er an diversen Unternehmen und Vermögensfonds beteiligt.
Bis zur Rückgabe Hong Kongs an China vermehrte sich sein Geld auf beinah obszöne Weise. Das Dumme daran war, dass man den Reichtum in Hong Kong kaum geniessen konnte. Fast alle Zugereisten übernahmen ohne es zu merken die exzessiv hektische Betriebsamkeit der Einheimischen. Gearbeitet wurde von sechs Uhr früh bis spät in den Abend. Entspannung bedeutete Alkohol und fand erst nachts in den Clubs und Bars statt – bis in den Morgen. Geschlafen wurde am Ende des Monats. Das Gesellschaftsleben im Hong Kong von den 50er bis in die 80er Jahre war daher recht traditionell. Die Droge der Männer war Arbeit und Weinbrand, die der Frauen Country-Clubs und Gin.
Alistair, der nicht vorhatte, mit 60 bereits den Löffel abzugeben, hielt sich dieser Lebensweise weitestgehend fern und suchte sich seine eigenen kleinen Refugien. Er liebte teures Essen und Weine ebenso sehr wie die Küche in den Kellern und Hinterhöfen der alten Stadt. Eines Tages aber entdeckte er zu seiner Freude ein deutsches Restaurant mit dem bezeichnenden Namen Schnurrbart. Das Ambiente war eher modern und unscheinbar, das rustikale Essen jedoch unschlagbar, dazu ordentliches Bier – Alistair war im Himmel angekommen.
Insofern war es nicht verwunderlich, dass er in Berlin gelandet war. Die Sprache hatte er bereits zu Schnurrbartzeiten zu lernen begonnen. Jetzt, nach zehn Jahren Berlin, sprach er so fließend Deutsch, dass ihn sein Akzent zu stören begann. Und doch genoss er es zutiefst, einen guten britischen Pub gefunden zu haben. Bestimmte Dinge, und dazu gehörte neben schottischem Malt-Whisky auch ein frisch gezapftes Guinness, waren für einen gesunden Lebenswandel unabkömmlich.
Der Namensgeber und Inhaber Nestor Lloyd war ein überzeugter Exzentriker. Nach seiner Zeit beim britischen Bataillon in Nordberlin hatte es ihn nicht zurück an die Merseyside gezogen. Er mochte Berlin und sah hier weitaus bessere Chancen, seine Idee eines Pubs umzusetzen: Klassischer Ausschank im Pub-Bereich und eine innovative Küche, auch wenn letztere so anarchisch war wie die Einrichtung des Etablissements. Der Laden hatte einen sehr eigenen Charme, der Alistair wie einige andere auch zum treuen Stammgast hatte werden lassen. Dazu liebte er es, den stoischen Nestor aus der Reserve zu locken, indem er ihn mit rüden Witzen über Engländer aufzog oder wehrlose Gäste an der Bar mit absurden politischen Ideen traktierte.
Ein schrilles Kläffen riss ihn aus seinen Gedanken. Ein älterer Mann in einem grauen Mantel war wie aus dem Nichts erschienen und band seinen Dackel an den Haken neben dem Eingang. Alistair nickte ihm zu, erhielt jedoch nur einen kurzen, forschenden Blick.
Alistair wollte gerade die Pfeife einstecken, als noch jemand auf ihn zukam. Dieser bewegte sich eher unsicher und etwas ziellos (Tourist), das Gesicht blass und länglich (Engländer), die Kleidung von der Stange und in völlig unmodischen Farben (Marks & Spencer), dazu leicht übergewichtig (Mikrowellenkoch). Er blieb stehen, sah Alistair glückselig an und sprach in breitestem Manchester-Dialekt.
»Entschuldigung, ist das ein englischer Pub?«
Alistair runzelte die Stirn, schob die Augenbrauen zusammen und antwortete in ebenso breitem Schottisch. »Könnte man meinen, steht ja dran.« Als Gentleman schickte er jedoch ein freundliches Lächeln hinterher.
»Oh Mann, herrlich. Bin zwar gut durchgekommen bisher, aber ich brauche eine verdammte Pause. Gibt‘s auch Pub-Food?«
»Alles was Sie brauchen. Nur würde ich das in etwas neutralerem Englisch bestellen, der Wirt kommt aus Liverpool.«
»Ah, ein Scouser. Prima, danke.«
Alistair folgte dem Eintretenden und rieb sich innerlich die Hände. Wie alle Neuankömmlinge blieb auch dieser verwirrt stehen, nahm das visuelle Chaos in sich auf, um sich dann an die Bar zu setzen. Während die ausladende Theke des Lloyd‘s, die Zapfanlage und das Flaschenareal dahinter allerhöchsten Ansprüchen genügte, war der Restaurantbereich ein Irrgarten des absurden Geschmacks. Nestor hatte ihn mit Familienerbstücken und Fundstücken von seinen Trips nach Ostberlin eingerichtet. Man saß an seltsamen Konstruktionen oder auf leicht durchgescheuerten Sofas, umgeben von Gerümpel aus allen Epochen. Normale Tische waren die Ausnahme und daher als erstes besetzt. Natürlich gab es viele, die gerade wegen des skurrilen Interieurs hierher kamen. Die meisten von denen, die zum ersten Mal in den Laden kamen und von der Einrichtung nichts wussten, gingen jedoch rein instinktiv erst mal an die Theke.
Alistair nahm zwei Stühle weiter Platz und bestellte sich ein Guinness bei Dierdra, Nestors Frau und Barchefin. Auf dem großen Flachbildschirm liefen die Sky-News. Nestor ließ sie den ganzen Tag ohne Ton laufen, da er leise Hintergrundmusik bevorzugte. Einzige Ausnahme waren Fussball- und Rugbyübertragungen. Gerade sah man Sean Connery im Kilt vor einem Amtsgebäude umhergehen, darunter die Schlagzeile „Schottlands Zukunft: Referendum auf 2014 datiert“.
Alistair lachte in sein Bier und blickte in die Runde. »Na endlich, wurde auch Zeit.«
Das hatte die erwartete Wirkung. Nestor hob die Augen gen Himmel und ging zu dem alten Mann ans andere Ende der Bar, Dierdra lächelte wissend, der Mann aus Manchester blickte zu Alistair.
»Keine Ahnung, warum die das machen. Ist ja nicht so, dass die mehr Kohle haben werden, und eine eigene Fussball-Liga haben die doch schon. Idiotisch.«
Alistair hob ernst die Augenbrauen, obwohl er innerlich jubilierte. »Ach, meinen Sie? Ich denke, das Ganze wird im Gegenteil sehr lukrativ für uns.«
»Und wie soll das gehen?«
»Ich könnte jetzt den ganzen Sermon runterbeten, aber das würde zu weit führen. Sagen wir‘s mal ganz einfach: Erstens müssen wir dann unsere signifikanten Ölanteile nicht mehr mit der maroden englischen Bankrottwirtschaft teilen, zweitens ist unser Parlament weitaus demokratischer.«
»Demokratischer als das Parlament in London?«
»Aber sicher. Ein Beispiel: In Eurem House of Lords sitzen 26 Bischöfe und furzen eine ganze Legislaturperiode lang in die Sessel. Warum? Nicht weil sie gewählt werden oder Ahnung von irgendetwas haben, sondern einfach, weil sie zur englischen Kirche gehören. Das, mein Freund, ist die Definition von Rückständigkeit.«
Sein Gegenüber verzog den Mund. »Also so richtig modern seid Ihr Schotten aber auch nicht gerade.«
»Würde ich nicht so sehen. Wir haben alles erfunden, was das moderne Leben ausmacht. Penicillin, Anästhesie, Fernsehen, Kühlschränke und vor allem Golf. Wo wäre die Welt ohne unsere Erfindungen? Und dann, nicht zu vergessen, die Klospülung. Denken Sie dran, wenn sie das nächste Mal davor knien, wenn ManU aus der Champions-League fliegt.«
»Das ist nicht ganz richtig«, liess sich eine Stimme von rechts vernehmen. Alistair drehte sich zu dem alten Mann um. Der sah ihn ernst und ausdruckslos an.
»Wasserklosetts gab es bereits in der Bronzezeit. Die Indus-Zivilisation hatte bereits 2000 vor Christus Klospülungen in jedem Haus von Harappa.«
Alistair blickte überrascht drein, auch, weil der Mann auf Deutsch gesprochen hatte, obwohl die Konversation auf Englisch stattgefunden hatte. »Aber wohl nicht auf Knopfdruck«, antwortete er schließlich etwas lahm.
»Ein Tag zum Anstreichen im Kalender. Ali hat seinen Meister gefunden«, kommentierte Dierdra und lachte. Dann wandte sie sich an den Mann. »Darf ich Ihnen einen Drink ausgeben?«
»Vielen Dank, nein. Ich muss wieder los.« Er stand auf und zog seinen Mantel an. »Nicht viel los hier, aber abends wird es doch sicher voller?«
»Natürlich«, antwortete Dierdra. »Um neun sind alle Tische besetzt, vor allem, wenn wir wie heute einige Spezialitäten auf der Tageskarte haben.«
»Laufkundschaft oder Stammgäste? Ihre Tageskarte ist etwas verwirrend.«
»Beides. Wir haben einige Stammgäste wie Alistair hier, aber auch sehr viele Gäste, die uns wegen unserer eigenartigen Karte besuchen. Mein Mann kocht eher nach Laune, aber ganz hervorragend.«
Der Mann nickte nur, legte das Geld für seinen Kaffee auf den Tresen und ging. Alistair blickte ihm nach.
»Seltsame Type. Sieht aus wie einer dieser depressiven Rentner. Bis er den Mund aufmacht. Nicht schlecht. Ostdeutscher, mit Sicherheit.«
»Woran siehst Du das?«, fragte Dierdra.
»Habitus. Unscheinbar, aber darunter eine subtile Härte, gut gebildet und sicher im Ausdruck. Das ist eher eine ostdeutsche Art, die haben einfach eine intensivere Bildung genossen, vor allem diese Generation.«
Nestor kam aus der Küche, deren Eingang zentral hinter der Bar lag. »Der Haggis ist fertig, Ali. Magst Du schon essen?«
»Aber sicher«, antwortete Alistair strahlend, nahm den Whisky, den ihm die umsichtige Dierdra hinhielt und ging zu einem der normalen Tische.
Das Essen war ein einziger Genuss. Alistair verlor sich in Kindheitsgedanken, während er das schottische Nationalgericht zelebrierte. Haggis gab es bei Nestor nur alle vier Wochen, und zwar immer dann, wenn Alistair eine frische und eisgekühlte Lieferung aus Inverness bekam. Zwei Lebensmittel ließ er sich per Boten schicken, egal, wo in der Welt er sich aufhielt: Den frischen Lachs, den er bei seinem jährlichen Angelurlaub in Kanada fing und Haggis von Hamish McTiernan. Beides war, wie seine Whiskys und Burgunder-Weine, fester Bestandteil der Speise- und Weinkammer.
Bei all der Schlemmerei hatte er gar nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen war. Der Engländer war längst verschwunden, als sich Alistair für einen Espresso an die Bar setzte. Das Lokal hatte sich inzwischen gut gefüllt, es war Zeit zum späten Abendessen. Alistair war wie immer froh, dem Ansturm zuvorgekommen zu sein und genoss den frisch gebrühten Kaffee.
Kurze Zeit später öffnete sich die Tür und zwei Männer kamen herein. Der erste blieb wie angewurzelt stehen und glotzte verwirrt umher. Er trug eine abgewetzte Lederjacke, sehr gute Jeans und hatte strähniges Haar. Trotz seines Dreitagebarts sah er aber nicht aus wie ein Rock&Roll-Freak. Das hier war ein kontrollierter Typ, der sein Outfit aus Überzeugung trug. Dann sah Alistair die Ausbuchtung unter dem Arm. Natürlich, Kriminalpolizei. Wie zur Bestätigung erkannte er den zweiten Eintretenden. Kiran Mendelsohn begrüßte die Dame des Hauses mit einem entspannten Lächeln und dirigierte seinen Begleiter zur Bar.
Kiran war ebenfalls Stammgast im Lloyd‘s. Der Glückliche hatte seinerzeit das freigewordene Loft in der Dachetage des Hauses gekauft und kam seitdem regelmäßig und pünktlich zum Abendessen.
Alistair mochte diesen so untypischen Deutschen. Das lag vor allem an Kirans weltläufiger Lebensart. Er hatte als Schüler ein Jahr auf der Highschool und später weitere zwei Jahre für seine Polizeiausbildung in den Staaten verbracht, was man ihm sofort anmerkte. Sein Englisch war zwar durch und durch amerikanisch, aber erfrischend akzentfrei. Dazu hatte er auch ein Jahr in Japan verbracht. Über diese Zeit hatte er eher wenig erzählt, aber seine ruhige und fokussierte Art ließ vermuten, dass er sich dort intensiv mit Zen-Buddhismus beschäftigt hatte.
Dazu war er Profiler beim Bundeskriminalamt, Abteilung internationale Kooperation. Das machte ihn zum perfekten Gesprächspartner für Alistair, der Stories über kriminelle Machenschaften liebte. Vor allem, weil Kiran vom Fach war und man ihn nicht mal ansatzweise aufs Glatteis führen, geschweige denn aus der Reserve locken konnte. Für Alistair war dies eine ständige Herausforderung, zugleich aber hatte er diesen interessanten und so verschlossenen Menschen schnell respektiert. Toleranz ließ Alistair jedem halbwegs gebildeten Menschen zukommen. Respekt aber erhielten nur jene, die die Kunst des Genießens guter Küche beherrschten. Kiran war als Koch und Gourmet zwar eher japanisch unterwegs, aber ein aufmerksamer und experimentierfreudiger Zeitgenosse.
Zusammen hatten sie sich durch die verrücktesten Kreationen von Nestor gegessen und dabei über die Welt gesprochen. Alistair war sich sicher, dass unter Kirans kontrolliertem Äußeren noch so einiges schlummerte, nicht wenig davon Dinge, die man nicht in der Kneipe diskutieren konnte. Nach Jahrzehnten der Erkundung unterschiedlichster Gesellschaftsschichten Ostasiens hatte Alistair ein sehr feines Gespür für unterschwellige Emotionen und Schrankskelette entwickelt. Mendelsohns Schutzwall aber war wie aus Stahl. Da Kiran jedoch ein äußerst umgänglicher und sehr zuvorkommender Mensch war, akzeptierte Alistair die Grenzen, die dieser Mann in jeder Unterhaltung zog. Einzig im Sport kannte Alistair keine Gnade. Kirans totale Ignoranz gegenüber Rugby und der Welt des Sports im allgemeinen konnte man in einem Pub so nicht stehen lassen. Aber der Mann war lernfähig, wozu Alistair den taktisch klugen Umweg über guten schottischen Malt-Whisky eingeschlagen hatte.
Kiran erblickte ihn und stellte seinen Bekannten vor. »Bolko, darf ich Ihnen einen waschechten Schotten vorstellen? Ein guter Freund und Teil des Inventars. Alistair Campbell – Bolko Blohm.«
Alistair streckte die Hand aus. »Angenehm, junger Mann. Sie sehen aus, als könnten Sie einen kleinen Startschuss vor dem Bier gebrauchen. Versuchen Sie’s mal mit einem einundzwanzig Jahre alten Bruichladdich, das entspannt ungemein.«
Blohms fragender Gesichtsausdruck wurde sogleich in Gestalt von Nestor beantwortet, der ebenfalls dazu getreten war und ihnen zwei Whiskygläser hinstellte.
»Hi, Kiran. Neuer Kollege?« Er begrüßte Blohm und schenkte ihnen einen Single Malt ein.
Bolko fixierte das Glas. »Also ich trinke den ja mit Eis, aber …« Er unterbrach sich, als er Nestors finsteren Blick auffing.
Alistair griff ein, bevor Nestor etwas Falsches sagen würde. »Mein lieber Junge, es gibt tatsächlich nur wenig Schlimmeres, das Sie in einem ordentlichen Pub hätten sagen können. Versuchen Sie es lieber mit einem Tropfen Wasser, wie es unsere Urgroßväter vorgesehen haben.«
Bolko schaute misstrauisch, während Kiran allen zuprostete und den Whisky in einem Schluck austrank. Bolko tat es ihm nach, schnappte nach Luft und deutete auf den Restaurantbereich hinter sich.
»Wollen wir was essen und dabei den Tag besprechen?«, fragte er mit erstickter Stimme.
Kiran nickte und bestellte zwei Pints, während Alistair lachend den Daumen hob und den beiden nachblickte.
Bolko ging in den Raum und wählte zu Alistairs Entzücken den mit Abstand durchgeknalltesten Tisch, eine Stahlplatte, die auf einer Wanne montiert war. Nestor hatte den Wassertank mit Kohleofen und Duschkopf an der Badewanne belassen und mit einer goldbronzenen Farbe lackiert. Im Grunde war dies eine komplett sinnfreie Kombination, bis eines Tages eine walisische Rugbymannschaft aufgetaucht war, um nach einem Freundschaftsspiel mit ihren deutschen Sportkameraden das Vierländerturnier im Fernsehen zu verfolgen.
Alistair, in seiner Jugend selbst Rugbyspieler, hatte sich sofort mit den Jungs angefreundet. Nach mehreren Stunden der Fachsimpelei und des ausgiebigen Trinkens kam es im inzwischen übervollen Lokal zu Versorgungsengpässen. Alistair und seine neuen Freunde hatten daraufhin vorgeschlagen, den Wassertank an der Tischwanne mit Guinness zu füllen. Diese eigentlich ganz hervorragende Idee war jedoch an Dierdra abgeprallt wie an einer Betonmauer.
Nestor kam zurück an die Bar und gab Kirans Bestellung an Dierdra weiter. »Zweimal bayrischer Shepherd‘s Pie für Kiran und seinen Kollegen.«
Alistair glaubte sich verhört zu haben. »Bayrischer Shepherd? Was um Gottes Willen hast Du jetzt wieder angerichtet, Engländer?«
»War eine Bitte von ein paar Studenten, die aus Bayern stammen. Die wollten was Rustikales mit Sauerkraut, mögen aber Shepherd‘s Pie und fragten, ob man das kombinieren kann. Nette Jungs, kommen nachher vorbei. Du hast übrigens neulich einem von denen mit Deinem Whiskyvorschlag fast die Leber extrahiert. Jedenfalls fand ich die Idee gut und habe heute mal eine bayrische Variante vom Schafshirten ausprobiert.«
»Aha, und wie soll das aussehen?«
»Einfach. Den Püree wie Colcannon-Mash anmachen, aber mit Speck und Röstzwiebeln, dazu gebratenes Sauerkraut statt Kohl. Die Fleischlage ist kein Lammhackfleisch, sondern bayrischer Leberkäse. Obendrauf natürlich eine dicke Käsekruste. Könnte ein Renner werden hier, vor allem im Winter. Gibt kaum eine bessere Trinkgrundlage als so ein Käse-Kartoffel-Fleisch-Hammer. Und schmeckt klasse, wie so ziemlich alles aus Bayern.«
Alistair verzog das Gesicht angesichts dieses Sakrilegs. Gut, er liebte deutsches und bayrisches Essen, aber das hier überschritt irgendwie eine Grenze. Außerdem klang es ziemlich matschig.
»Ist auch optisch sehr ansprechend, wir machen das wie eine Lasagne mit abwechselnden Lagen, schneiden Tortenstücke raus und auf die Käsekruste wird frischer Schnittlauch gestreut«, ergänzte Dierdra, die Alistairs Gedanken erraten hatte.
»Hm, naja. Werde ich dann wohl auch mal testen, aber heute ist Haggis-Tag, Leute. Und Kiran hat den noch nie probiert. Mach denen zwei Portionen, ich zahle.«
»Meinst Du wirklich, dass das eine gute Idee ist, Ali?«, fragte Dierdra.
»Aber ja. Das wird eine gute Erfahrung für die zwei. Mach mal, Nestor, ich übernehme die Verantwortung.«
Er ignorierte Nestors zweifelnd sardonischen Blick und leerte seinen Whisky. Heute war so ein Tag für unvorhergesehene Unterhaltungen. Außerdem wollte er diesen neuen Kollegen von Kiran etwas genauer in Augenschein nehmen. Irgendetwas war da zwischen den beiden. Blohm war nicht irgendein Bulle, er arbeitete mit Kiran zusammen. Das konnte man an ihrer konzentrierten Unterhaltung sehen. Und der Anlass war kein gewöhnlicher. Hier ging es um eine sehr ernste Sache. Da war ein ganz bestimmter Ernst auf den Mienen der beiden. Alistair hatte diesen Gesichtsausdruck das letzte Mal in Hong Kong gesehen, als ihm ein befreundeter Botschafter von seiner Begegnung mit den Triaden erzählt hatte.
Er ging hinaus und zündete sich eine Pfeife an. Am Fenster standen zwei bullige Typen, schauten ins Innere der Kneipe und unterhielten sich auf russisch. Wie gesagt, ein kosmopolitischer Tag heute.
Als er eine Viertelstunde später wieder in den Pub trat, schickte sich Nestor gerade an, das Essen zu servieren. Alistair schnappte sich seine Hausflasche Bruichladdich und folgte ihm.
Kiran und Bolko schauten etwas verwirrt drein, als Nestor das Essen servierte. Alistair machte keine Umstände und setzte sich zu den beiden an den Tisch.
»Meine Herren, ich habe dem Wirt dieses bayrisch-britische Machwerk ausgeredet. Zwei junge kultivierte deutsche Staatsdiener müssen mit der Perle schottischer Kochkunst beglückt werden. Ich habe zu diesem Zweck auch die restliche Flasche Bruichladdich dabei. Bolko, mein Junge, haben Sie schon mal etwas von Robert Burns gehört?«
Bolko schüttelte den Kopf, während er immer noch auf den Teller starrte. »Was ist das?«
Alistair lächelte jovial ohne Kirans durchdringenden Blick zu beachten. »Das, Bolko, ist das schottische Traditions- und Nationalgericht Haggis.«
»Und woraus besteht das? Sieht aus wie Hackfleisch im Sack.«
Alistair nickte. »So könnte man sagen. Man schneidet es auf und übergießt das Ganze mit etwas Whisky, das ist die wichtige Zutat zur Würze. Sie erlauben?« Ohne abzuwarten träufelte er den Whisky über die Portionen und forderte die beiden auf, mit dem Essen zu beginnen.
Bolkos Miene hellte sich während des Kauens auf. »Stimmt, sehr würzig. Und der Whisky ist eine prima Idee, käme auch gut auf normalem Hackfleisch«, sagte er zu Alistair und zu Kiran gewandt: »Haben Sie das schon mal gegessen?«
Kiran schüttelte kauend den Kopf, blickte aber immer noch ziemlich ernst in Richtung Alistair.
»Also, wer ist dieser Robert Burns?«, fragte Bolko.
»Unser Nationalpoet. Lebte Mitte des 18. Jahrhunderts. Er hat nicht nur die Nationalhymne verfasst, sondern unzählige Gedichte über Ausschweifungen jeglicher Art. Die meisten drehten sich um Trinkgelage, gutes Essen und Frauen. Sogar über Mäuse hat er gedichtet, ich nehme mal an im Delirium Tremens. Er war ein ziemlicher Lebemann, ein schottischer Tom Waits, wenn Sie so wollen.«
»Ach so. Klang eher wie ein Koch. Und das Rezept ist von ihm?«
»Nein«, antwortete Alistair, hochbeglückt über dieses weitere Stichwort. »Burns hat auch eine Ode an den Haggis geschrieben. Ein ganzes Gedicht über dieses Mahl, Zusammensetzung, Bedeutung, Geschmack, alles – und das in bester Reimform. Wir Schotten feiern das jedes Jahr am 25. Januar, seinem Geburtstag. Ein ritualisiertes Gelage mit fester Redeordnung, dem Servieren des Haggis und dem feierlichen Aufschneiden unter Rezitation der Ode bei Dudelsackbegleitung.«
»Und was ist an der Zusammensetzung so besonders?«, fragte Bolko, ohne Kirans warnenden Gesichtsausdruck zu bemerken.
»Es ist im Grunde vergleichbar mit der deutschen Blutwurst, vielleicht auch Presskopf oder Saumagen, den Ihr ehemaliger Kanzler so gerne gegessen hat. Im Grunde eigentlich etwas von all dem. Man nimmt einen Schafsmagen, gesäubert natürlich, läßt ihn in Wasser ziehen, während man die Innereien, Herz, Leber und Lunge kocht. Das Ganze wird kleingehackt, mit Muskat, Hafermehl und Zwiebeln vermischt und in den Magen gefüllt. Mein Metzger in Inverness, von dem dieser Haggis hier stammt, gibt noch eine eigene Würzmischung dazu. Göttlich, finden Sie nicht?«
Bolko hatte während der letzten Sätze aufgehört zu kauen und schaute Alistair ausdruckslos an.
»Kein Grund innezuhalten, mein Junge. Das hier ist ein jahrhundertealtes Nationalgericht und sehr schmackhaft.«
Bolkos Gesichtsausdruck war immer noch schwer zu definieren, als er vorsichtig runterschluckte. »Sie meinen, wir essen hier gerade alle Teile vom Schaf, die man normalerweise wegwirft?«
Alistair schüttelte den Kopf. »Das tun nur Idioten. Selbst bei Euch in Deutschland isst man ja frische Kutteln.«
Kiran hatte seinen Teller bereits leergegessen, sein Bier hinuntergestürzt und ging zur Theke, um neue Getränke zu bestellen. Alistair goss Bolko einen weiteren Whisky ein.
»Verstehen Sie mich nicht falsch Bolko, das hier ist kein Streich, den ich Ihnen spielen wollte. Haggis ist nicht nur eine Delikatesse, er ist auch eine interessante Übung für die eigene Wahrnehmung.« Er hob sein Glas und lächelte.
Bolko trank und aß langsam weiter. »Was meinen Sie damit?«, fragte er vorsichtig kauend.
»Sehr gut. Das ist die richtige Einstellung. Sehen Sie, der Haggis schmeckte Ihnen ausgezeichnet, bis Sie erfuhren, was drin ist, dann schmeckte er nach stinkendem Schaf, richtig?«
Er wartete Bolkos Antwort nicht ab. »Genau das ist der Moment, in dem unsere rechte Gehirnhälfte die Kontrolle übernimmt und völlig unsinnige Befehle erteilt. Ich habe das in Kowloon erkannt. Das ist eine inzwischen abgerissene alte Slumsiedlung im alten Hong Kong. Musste man gesehen haben, um die Stadt zu verstehen. Ich war mit meinem chinesischen Geschäftspartner zu einem Gastmahl geladen. Dabei hat er mich die wichtigste Lektion zum Entdecken anderer Kulturen gelehrt. „Wenn Sie Dir Schafsaugen servieren, denke nicht daran, was Du da in der Hand hältst. Schau Deinem Gastgeber in die Augen, lächle, stecke es in den Mund und stell Dir vor, es ist eine Weintraube.“ Hat prima geholfen.«
Bolko schob den Teller von sich und blickte hilfesuchend zu Kiran, der mit frischem Bier und zwei Magenbittern ankam. Bolko stürzte beides hinunter.
»Also eins muss man sagen, Ihr zwei seid mit Sicherheit die seltsamsten Typen, denen ich in letzter Zeit begegnet bin. Und das will was heißen nach den letzten beiden Tagen.«
Kiran hob lächelnd die Schultern. »Nun, das alles ist auch nicht unbedingt Routine für mich. Meine Tage sind sonst weitaus ruhiger. Und Alistair hat mich bislang nur mit Gourmet-Essen bedacht, nicht solchen kulinarischen Härtetests wie heute. Was hat Dich bloß geritten, Ali?«
»Nun, der Haggis ist frisch und Du warst schon seit langem fällig. Jetzt kommst Du mit Deinem Kollegen hier an, der mir nicht wie ein verschnarchter Beamter aussieht. Die Gelegenheit war ideal. Und dann, denke ich, seid Ihr beiden nicht zu einem kleinen Umtrunk unter Kollegen hier, habe ich Recht?«
Kiran und Bolko sahen sich an.
»Nun kommt schon, das ist doch offensichtlich«, fügte Alistair hinzu.
Kiran hob die Augenbrauen, verzog sonst aber keine Miene.
»Gut, dann lasst mich mal raten. Gestern wurde Deutschlands mächtigster Industriemagnat vor seinem Haus von einem Profi erledigt. Heute sitzt Du, der seit gestern im Urlaub sein sollte und übrigens eine Einladung zu gegrilltem Koberind ausgesprochen hatte, mit einem neuen Kollegen am Tisch und Ihr diskutiert eine halbe Stunde lang mit einem Gesicht, als ob die Tet-Offensive bevorsteht. Also, der Mord ist Euer Fall, oder?«
»Messerscharf kombiniert. Ja, wir sind die leitenden Ermittler in diesem Fall. Bolko ist neu aus Hamburg dazugekommen und führt das Team. Ich berate.«
»Beraten, hm«, meinte Alistair und legte den Kopf schief. »Also ich weiß ja nicht, was dieser Industriebonze angestellt hat, aber nach dem, was ich über ihn und seine Aktionen in Russland gelesen habe, würde es mich wundern, wenn es beim Beraten bleibt.«
Kiran sah ihn an. »Werden wir sehen. Aber ich kann Dir nichts zu all dem sagen, Ali. Tut mir leid.«
»Musst Du auch nicht, mein Junge. Aber es freut mich, dass Du mal wieder an die frische Luft kommst.«
Bolko schaute ebenso erstaunt drein wie Kiran. Alistair kam ihnen zuvor. »Keine Bange, Bolko. Kiran wird Ihnen versichern, dass ich kein neugieriger Rentner bin. Eher ein Veteran, dem ein paar Sachen aufgefallen sind. Aber ich achte Eure Anweisung, nichts rauszurücken. Wir werden ja früh genug mitbekommen, wenn es kracht. Und jetzt, meine Freunde, nehmen wir noch ein paar Verdauungsschnäpse. Schottische, nicht dieses klebrige italienische Zeugs hier, das man nach einem Popsänger benannt hat. Kommt mit zur Bar.«
Mit diesen Worten stand er auf. Kiran und Bolko folgten. An der Bar angekommen verwickelte Bolko die ihn anstrahlende Barchefin in ein Gespräch und bekam neben dem Schnaps noch einen Cider.
Alistair nahm Kiran beiseite. »Ein guter Mann, Dein Kollege. Sehr locker. Aber das täuscht. Der ist ein absoluter Brecher wenn‘s drauf ankommt, vertrau mir.«
Kiran nickte. »Er macht einen guten Eindruck. Sehr professionell, was die Arbeit angeht. Aber auch ziemlich flapsig. Ist zwar etwas gewöhnungsbedürftig für mich, aber ich werde schon klarkommen.«
»Noch was. Während Ihr bestellt habt, standen zwei Russen am Fenster und haben sich den Laden angeschaut. Knast-Tattoos, Stiernacken, rasierter Schädel. Sieh Dich vor da draußen.«
Er gab dem verblüfften Kiran einen Klaps auf die Schulter. Sie tranken noch einige Schnäpse, bis Bolko und Kiran sich schließlich verabschiedeten, zahlten und gemeinsam das Lokal verließen.
Alistair winkte zum Abschied und stopfte sich eine neue Pfeife. Plötzlich fühlte er Dierdras Blick auf sich ruhen. Sie sah ihn ernst und besorgt an.
Worte waren unnötig. Diedra hatte ein untrügliches Gespür für nahendes Unheil.
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