VORWORT

ShortCrimes ist mein Buzzword für Krimi-Kurzgeschichten aus der Welt des Kiran Mendelsohn und dem Lloyd‘s Pub & Diner.

Das Lloyd‘s ist die Stammkneipe von Kiran Mendelsohn, Protagonist aus meinem ersten Krimi Sibirischer Wind.

Hintergrund dieser Idee ist meine Angewohnheit, zu Figuren aus den Romanen nicht nur Profile oder Lebensläufe, sondern oft auch Kurzgeschichten um Personen, Team und zu einzelnen Settings oder Kapiteln zu schreiben. Und da dies nicht nur für mich eine spannende Übung ist, sondern auch dem Leser einen besseren Einblick und eine neue Perspektive bietet, werde ich diese kleinen Stories auf meinem Blog veröffentlichen.

Im Lloyd‘s begegnen sich Figuren aus den Romanen und treten mit anderen Charakteren in Interaktion. Das kann eine kleine Story um die Protagonisten sein, es kann ein Blick auf sie von anderen Figuren aus gesehen oder einfach eine erzählenswerte Alltagsszene sein – das Setting ist jedoch immer der Pub. Wie im Buch auch sind die Themen daher die gleichen, wie man sie aus der Stammkneipe kennt: Politik, Gesellschaft, Kultur, Essen, Trinken oder Sport. Und, immerhin verkehren hier Kiran plus Team, Verbrechen.

In der folgenden Geschichte geht es um einen der kleineren Fälle, die das Team zwischen den Romanen erlebt. Inspiriert wurde ich durch einen Abend in der Black Pearl, einem Pub in Gestalt einer Nachbildung des Piratenschiffs von Errol Flynn hier auf Malta. Ich kam später aus der Band-Probe und traf auf die Gruppe um meine Frau und eine ihrer/unserer besten Freundinnen. Die beiden hatten alkoholtechnisch einigen Vorsprung. und planten gerade die Rettung der Oma unserer Freundin. Vom Friedhof. Alles weitere unten.

Viel Spaß beim Lesen!

ASCHESPUR

Sie starrte in ein steinernes Gesicht. Dunkle Schatten, wo die Augen liegen sollten, das Gesicht totenbleich, die Haut entstellt. Sina schrie kurz auf und wurde umgehend in den Rücken geboxt.

»Sei still! Bist Du völlig bescheuert?«

»Sorry, hab gedacht, die wär echt…«

»Das ist ein Berliner Reichen-Friedhof, hier stehen nur so Statuen, komm jetzt. Und leise, verdammt! Sonst ist alles fürn Arsch.«

Sina stolperte ihrer Freundin Lissy hinterher, die sich den Weg zwischen Gräbern und Mausoleen mit Hilfe ihrer Handylampe suchte. Kein leichtes Unterfangen, das Ganze war ein einziger Irrgarten. Der Mond schien nur ab und an durch die Wolken. Dauernd rannte man gegen irgendetwas, der Boden war ohnehin irgendwie sehr uneben. Kein Wunder, nach vier Flaschen Prosecco und diversen Avernas hatten beide ordentlich einen sitzen. Scheißidee, die ganze Aktion. Aber irgendwie auch ziemlich cool.

Vor zwei Stunden hatte Lissy einen wichtigen Entschluss gefasst. Die Idee hatte sie schon länger mit sich herumgetragen, bis sie wieder mal mit Sina zusammengesessen, getrunken und ihrem Frust freien Lauf gelassen hatte. Über den Verlust ihrer geliebten Oma, der Gleichgültigkeit ihrer Mutter, der eiskalten Spießigkeit ihrer bescheuerten Schwester. Und darüber, dass sie ihrer Oma bis an ihr eigenes Ende nahe sein wollte. Nicht nur geistig, sondern auch körperlich. Keine Urne, sondern etwas mit Stil. So edel wie ihre Großmutter, die ihr alles beigebracht hatte, was eine zeitlos moderne Frau vom Leben wissen musste. Wie konnte diese geniale Frau eine so farblose Tochter haben und diese neben einer weiteren Schnarchtochter ein Energiebündel wie Lissy erzeugen?

Sie war Ärztin, kannte Schmerz und Tod, sah ihn mit anderen Augen. Eine Stufe weiter. In eine andere, körperlose Existenz. Was zurückblieb, war eine Erinnerung und ein vermodernder Körper. Oder eben Asche. Omas letzter und absoluter Wunsch: Verstreut in feuchtem Torf, rund um einen jungen Baumsetzling, dem sie beim Wachstum helfen würde. Oder Teil eines Kunstwerks. Aber nein, nicht mit Frau Mutter. Familienehre, Status, was sollen die Leute denken, ich denke nicht daran so einen esoterischen Unsinn umzusetzen, Mama kommt auf den Friedhof, der uns zusteht undsoweiterundsofort. Arrogantes, hirnloses Schnepfengeschwafel. Typisch Mutter. Und jetzt lag Oma eingesperrt in einer kitschigen Urne, vergraben in einem Protzgrab im Friedhof der Berliner Noblesse – oder all denen, die sich Kraft ihres Bankkontos dafür hielten.

Nach anderthalb Litern Schaumwein hate Lissy genug Wut angesammelt und Sinas Unterstützung. Sie waren mit ihren Rädern durch das dunkle Charlottenburg ins Westend geschickert, über die Friedhofsmauer geklettert und nun suchten sie das Grab.

»Weissu, wo Du hinmuss?«

»Ja doch. Sind gleich da…«. Lissy ging vorwärts und rannte direkt in eine kleine Statue. Das tat verdammt weh, war aber auch das Zeichen, dass sie angekommen waren. Sina übernahm die Lampe, Lissy ging in die Hocke und grub um die Blumen herum. Deswegen musste es heute sein. Der Grabstein musste erst gemeisselt werden, noch war Oma in Reichweite.

Dann hatte sie die Urne gefunden, herausgehoben und mit ihrem Leatherman aufgehebelt.

»Hassu die Dose?«

»Dose, welche Dose? Du hast doch in Deinem Schrank gewühlt, wie soll ich denn…«

»Scheiße, hast Du sonstwas?«

»Nur `ne Alditüte.«

»Gib her«

»Du willst doch Deine Oma nicht in eine Einkaufstüte abfüllen! Echt jetzt?«

»Aber hallo…« Lissy füllte die Asche um, dann verschloss sie die Urne, grub sie ein, warf die Erde zurück und einen Stein weg, der in der Erde gewesen war.

Ein Laut ließ beide herumfahren. Eine Art hoher Ruf, ein Tier vielleicht.

»Was war das?«, rief Sina, die einen Meter zur Seite gesprungen war.

»Keine Ahnung, kam von da drüben«. Lissy leuchtete in die angegebene Richtung. Etwas Rotes blitzte auf.

»Was ist das?« Sie stolperte in die Richtung. Ihr war ziemlich übel, aber Angst hatte sie keine. Der Alkohol machte irgendwie stark, mutig, neugierig. Sie leuchtete an den Grabstein. Verdammt, woher kam diese Säure im Magen, im Mund, woher….

»Warte, bist Du wahnsinnig?«

»Quatsch, dasis kein Gärtner, sichernich…«

Lissy fiel halb nach vorne, stützte sich auf den Grabstein und kotzte sich Suppe, Pasta, Dessert und die halbe Seele aus dem Leib. Es schrie wieder, vor ihr bewegte sich eine dunkle Masse mit hellen Flecken. Es klatschte, die Masse keuchte und verschwand.

Sina kam dazugelaufen. »Hast Du das gesehen? Ein Kerl! Warum rennt der weg?«

Lissy war das ziemlich egal. Sie stützte sich immer noch schwer atmend auf den Grabstein. Dann richtete sie sich auf, nahm ihr Handy und wählte den Taxiruf.

»Lass abhauen.«

*

Das Pintglas schlug auf dem Bartresen auf. Bolko Blohm war sauer. Und durstig. Dierdra, Barchefin im Lloyd`s, hatte schon ein frisches Pint gezapft und stellte es mit einem feinen Lächeln sanft vor den Hauptkommissar. Ihr Gatte Nestor Lloyd, Inhaber und Koch des Etablissements, servierte den Männern neben Bolko den mittlerweile fünften Cappuccino. Der erste bedankte sich auf französisch, der zweite nickte freundlich.

Kiran Mendelsohn, Profiler und Bolkos Partner in der internationalen Abteilung des BKA, nippte an der Milchhaube und betrachtete seinen Kollegen aus Frankreich. Capitaine René Clairmont hatte das BKA Berlin am Vorabend kontaktiert. Kiran hatte bereits seine Jacke in der Hand gehabt, als das Telefon geläutet hatte. Bolko war längst zum Training mit seiner seltsamen Boxtruppe gegangen. Der Rest des Teams, die beiden Oberkommissare Enzo Moretti und Alenka Motte, hatte sich ebenfalls in den Feierabend verabschiedet. Leise fluchend hatte Kiran den Hörer abgenommen, da die Nummer im Display die seiner Chefin war.

»Ah, Sie sind noch da, Kiran. Sehr gut. Ich habe gerade eine Mitteilung vom SPHP Frankreich, die wollen in fünf Minuten eine Videeokonferenz mit uns.«

»Von wem?«

»Service de protection des hautes personnalités, gehobener Personenschutz und auch Teil der internationalen Kooperation. Lesen Sie eigentlich die Memos, die rumgeschickt werden?«

»Doch, schon.«

»Prima, dann bis gleich.«

Capitaine Clairmont hatte sich formvollendet auf Deutsch vorgestellt und war gleich zur Sache gekommen. Bei der französischen Betonung ihres Namens hatte Kiran ein katzen-haftes Lächeln über das Gesicht seiner Chefin gleiten sehen.

»Madame Halbach, wir haben einen dringenden Notfall hier und brauchen die Hilfe Ihrer Abteilung. Vor einer Stunde ist auf einem Kanal für Auftragsverbrechen, den wir seit kurzem überwachen, eine Nachricht eingegangen. Der Text war: »Der Hahn kommt morgen zum Bären und muss sterben. Benachrichtige den Fuchs an üblicher Stelle im Morgengrauen.« Die Nachricht kam von einer deutschen IP-Adresse, die wir trotz beachtlicher Sicherheitsbarrieren einem Berliner Rechtsanwalt zuordnen konnten. Wir wissen seit geraumer Zeit von einem geplanten Anschlag auf eine hochgestellte Person der französischen Industrie, nur nicht, wer das Ziel ist. Jetzt aber kennen wir zumindest den Auftraggeber und sind sicher, dass der Anschlag morgen in Berlin stattfinden soll. Wahrscheinlich ein lokaler Auftragsmörder. Ich habe bereits eine Maschine warten und brauche ein Team.«

Kein Mann vieler Worte, hatte Kiran gedacht. Genau wie seine Chefin. Drei Stunden später war Clairmont vor Ort gewesen und hatte das inzwischen versammelte deutsche Team in der BKA Zentrale gebrieft.

Seine Sonderkommission in Frankreich war seit etwa drei Monaten einer Gruppe aus dem Untergrund auf der Spur, die ihre Spezialisten für Problembeseitigung an erlesene Kreise feilbot. Jetzt, da Informanten vor einem bevorstehenden Anschlag warnten, hatte diese neue Nachricht die Führung der Police Nationale in helle Aufregung versetzt. Clairmont war mit der Aufgabe betraut worden, den Auftraggeber in Berlin mit Hilfe des BKA zu beschatten und ihn beim Treffen mit dem Auftrags-mörder festzunehmen.

Siegfried Lensmann war Finanzanwalt, Mitinhaber einer mittel-großen Kanzlei mit wenigen, dafür umso wichtigeren Kunden, Mitglied in diversen erlesenen Zirkeln in Charlottenburg und Grunewald und von daher nicht unbedingt ein Kandidat für Auftragsmorde. Zumindest war es erstaunlich, dass er dies selbst und nicht durch einen Mittelsmann initiiert hatte. Die IP-Nummer der Nachricht war jedoch tatsächlich von seinem Laptop gekommen, das hatte Alenka als IT-Spezialistin des Berliner Teams recht schnell herausgefunden. Am nächsten Morgen hatte sie mit Enzo vor der Wohnung des Anwalts Stellung bezogen und ihn dann den gesamten Tag überwacht. Eine Geduldsprobe, denn außer zu einem kurzen Mittagessen hatte Lensmann sich nicht außerhalb seiner Kanzlei blicken lassen. Um elf Uhr abends hatte er dann endlich das Haus verlassen, im Schlepptau drei Autos, die sich die Verfolgung teilten.

Sie waren ihm bis ins Westend gefolgt, wo er den Wagen auf dem Parkplatz der DRK Kliniken abgestellt hatte und in Richtung Charlottenburger Wasserwerk gegangen war. Dort hatten sie ihn verloren.

»Machen Sie sich keine Vorwürfe«, ließ sich Clairmont vernehmen. »Die Beschattung war professionell, ein so großes Gelände konnten wir so schnell nicht überblicken.«

Kiran nickte dankbar, Bolko grunzte in sein Bier. Die kollegialen Worte taten gut, auch wenn der Frust immer noch an ihnen nagte. Selbst ein auf der Zunge schmelzendes Carpaccio hatte da wenig geholfen, obwohl Clairmonts respektvolles Lob für Nestor das kulinarische Zerwürfnis zwischen Frankreich und Großbritannien immerhin etwas gemildert hatte.

Bolko ging in regelmäßigen Abständen vor die Tür, wann immer der Polizeifunk etwas durch den Äther sandte oder Enzo und Alenka sich  meldeten. Nichts tat sich im nächtlichen Berlin. Lensmann blieb verschwunden.

Clairmonts Handy piepte, er wandte sich an Kiran. »Die Liste der nach Berlin gereisten Personen ist da. Man hat drei hochstehende Wirtschaftsfunktionäre ausgemacht, dazu gleich fünf weitere Lobbyisten aus Paris und Brüssel. Wir können unmöglich alle sichern, oder was meinen Sie?«

Kiran schüttelte den Kopf. »Wir nicht, meine Chefin schon. Schicken Sie ihr die Liste, sie wird selbst so eine Überwachung organisieren. Aber das bringt uns der Sache nicht wirklich näher.«

Lautes Gelächter von der anderen Seite der Bar ließ beide aufblicken. Dort saß ein weiterer Stammkunde, Alistair Campbell, und unterhielt sich mit einem sehr dicken und sehr fröhlichen Berliner.

»…janze Karre voll mit der Scheiße, wa? Erde, Asche und die Weiber aber sowat von besoffen. Und faseln von roten Kerlen…«

Kiran wandte sich wieder an seinen Kollegen, sie bestellten sich einen weiteren Kaffee und bliesen gemeinsam Trübsal. Bolko kam mit einem alkoholfreien Bier in der Hand, ihm folgte Alistair mit seinem üblichen diabolischen Grinsen.

»Mein Beileid, verehrte Staatsdiener. Während Ihr hier alkoholfrei vor Euch hingrübelt, feiern die Berliner Frauen sogar auf Friedhöfen. Erstaunlich. Im Osten treffen sich dort die rechten Schläger, im Westen betrinken sich die Frauen an den Gräbern. Taxifahrer müsste man sein, die erleben wenigstens was.«

Kiran war nicht nach Alistairs verqueren Scherzen. Auch nicht nach Anekdoten der Urgesteine des Berliner Personentransports. Andererseits, da war doch was. Taxi, Westen, Asche, Rot, Friedhof…

In seinem Kopf ging ein Licht an. Er sprang vom Barhocker und lief hinüber zu dem inzwischen noch lauter lachenden Berliner Taxifahrer.

»Kiran Mendelsohn, BKA, was ist das für eine Geschichte mit den betrunkenen Frauen am Friedhof?«

Der Taxifahrer glotzte ihn misstrauisch an, dann schaute er in Richtung Gastwirt. Der nickte.

»Zwee Weiber. Voll wie Haubitzen. Kollege hatse am Friedhof uffjejabelt. Det janze Taxi volljesaut…«

»Hatte eine von ihnen eine Alditüte dabei, wo war das, welcher Friedhof, wo wollten die hin, Namen und Adresse?«

»Wat allet? Sonst isset aba jut, wa?«

»Rufen Sie Ihren Kollegen über Ihren Funkwürfel da«, sagte Bolko, der mit gezücktem Ausweis dazugekommen war. Auch Clairmont war ihm gefolgt.

Der Taxifahrer sprach sein seltsames Taxikauderwelsch in den Funk. Nach einer Weile kam noch unverständlicheres Geschwurbel aus dem kleinen Funkgerät. Der Taxifahrer blickte sie an. »Erst zum Kaiser Willem Friedhof, Westend, dann am Krankenhaus einjestiegen und ab nach Wilmersdorf. Hohensteiner Strasse 45. Eine hat immer Lissy jesagt und vom Friedhof, Untoten und roten Typen jefaselt. Mehr wees er ooch nich. Is immer noch am Putzen.«

Kiran bedankte sich und nahm die Kollegen beiseite. »Als wir am Parkplatz DRK Krankenhaus gestanden haben, sind zwei Frauen schwankend in ein Taxi gestiegen, die eine hatte eine Alditüte dabei.«

»Und was hilft uns das bitte?«, fragte Bolko.

»Weil Lensmann uns vielleicht gar nicht abgehängt hat, er ist auf den Friedhof gegangen.« Er blickte in zwei verständnislose Gesichter. »Mensch, zwei betrunkene Frauen kommen nachts aus Richtung eines Friedhofs gleich neben unserer Position und reden von Zombies und roten Kerlen. Lensmann hat rötliche Haare.«

Bolko und Clairmont waren sofort hellwach. Sie nahmen ihre Jacken, verabschiedeten sich und verließen den Pub. Bolko war bereits am telefonieren.

»Enzo, du bleibst bei der Wohnung. Schick Alenka zum Kaiser Wilhelm Gedächtniskirchen Friedhof. Und sie soll ihre kleine Zaubertasche mitbringen.«

Kiran besprach sich unterdessen mit Clairmont. »Wir zwei besuchen die Damen. Lensmann ist sicher nicht mehr auf dem Friedhof. Wenn er da auch den Mörder getroffen hätte, wären die beiden Frauen jetzt tot. Er hat eine Nachricht hinterlassen, das überprüft Bolko. Wir zwei hören uns an, was die Frauen gesehen haben.«

Clairmont hob die Augenbrauen. »Betrunkene Frauen? Sie sind ein Optimist, Monsieur Mendelsohn.«

*

»Madame, können sie mir sagen, was Sie auf dem Friedhof gesehen haben?«

Clairmonts starker Akzent und sein römisches Profil trugen nicht wirklich dazu bei, dass sich die beiden immer noch ziemlich angetrunkenen Frauen besser konzentrieren konnten. Gerade erst hatten sie sich vom Anblick zweier Polizeiausweise erholt, nun saßen sie in der Küche und bemühten sich, trotz des verräterischen Drecks auf dem Fussboden unverdächtig auszusehen und nicht vom Stuhl zu fallen. Kiran betrachtete die beiden Frauen, diese fixierten Clairmont. Die eine bemüht ruhig, die andere mit leicht geöffnetem Mund und blinzelnden Augen. Na toll. Kiran schaltete sich in die Unterhaltung ein.

»Frau Karnik, wir sind nicht wegen Ihres Einbruchs auf dem Friedhofs. Wie ich schon sagte, wir suchen einen Verdächtigen, der sich wahrscheinlich auch dort aufhielt. Und Sie haben im Taxi von roten Kerlen gesprochen. Haben sie dort auf dem Friedhof einen rothaarigen Mann gesehen?

Elisabeth Karnik war eine burschikose und auf ihre Weise sehr attraktive Frau. Blond, spitzbübisches Gesicht, üppige und doch drahtige Figur. Sie versuchte sich zu konzentrieren. Laut Alenkas Blitzrecherche war sie Ärztin in einem recht exklusiven Klinikum in Zehlendorf. Also musste sie trotz Megaschwips eigentlich noch halbwegs logisch denken können. Dann sah sie Kiran an und hatte offenbar eine Entscheidung getroffen.

»Meine Mutter ist ein Arschloch.« Pause.

Kiran wartete, Clairmont machte ein äußerst gallisches Gesicht.

»Die hat Oma vergraben. Ich will meine Oma aber hier haben.« Sie deutete auf ihren Hals. Kiran verstand. Die beiden hatten sich Mut angetrunken und waren in den Friedhof eingebrochen, um die Asche von Elisabeth Karniks Grossmutter zu stehlen. Dabei mussten sie auf Lensmann getroffen sein.

Clairmont versuchte es noch einmal mit Charme. »Madame Karnik, bitte, wir ermitteln in einer wichtigen Angelegenheit. Es geht um einen bevorstehenden Anschlag, wir müssen diesen Mann finden. Ich bin sicher, mein Kollege wird Sie und die Asche ihrer Grossmutter schützen, nicht wahr, Kiran?«

Kiran hob die Augen gen Himmel und wollte gerade nicken, als die Freundin ihre Sprache wiederfand. Sina Ulbrink war kleiner als Elisabeth Karnik, kurzes dunkelrotes Haar, ein sehr schön geschwungener Mund, die meergrünen Augen ebenso schön, jetzt allerdings in zwei verschiedene Richtungen blickend.

»Sie hat ihn vollgekotzt«

»Ehm, wie bitte?«

»Na den Rothaarigen. Mittendrauf. Sie hat sich über den Grabstein gelehnt und…«

»Schon klar, können Sie uns beschreiben, wo der Grabstein in etwa liegt?

Zwanzig Minuten später befanden sie sich auf dem Weg zum Hauptquartier. Bolko und Alenka hatten auf dem Friedhof keine Wegbeschreibung mehr gebraucht. Im fahlen Licht des ange-brochenen Morgens führte wie im Märchen eine feine und deutliche Aschespur vom Eingangstor direkt zu einem verwüsteten Urnengrab. Hinter dem benachbarten Grabstein hatten sie die Reste von Elisabeth Karniks Abendessen, eine Art Wachsmalstift und Spuren eines panischen Fluchtversuchs vorgefunden. Alenka hatte den Stift sofort erkannt und damit begonnen, die Grabsteine mit ihrer UV-Leuchte abzusuchen. Dann wurde sie fündig und rief ihren Boss.

Kirans Mobiltelefon klingelte. Bauer, Garn & Dyke – Bolko.

»Wir haben die Nachricht. Vier Zahlenreihen, fotografiert und an die Codeknacker in Wiesbaden geschickt. Aber der Torpedo war wohl auch schon hier«

»Bist Du sicher?«

»Jepp. Vor dem Grabstein haben die Frauen gewütet, dahinter ist Lensmann auf der Kotze ausgerutscht und auf die Fresse gefallen. Ein kleiner Stein mit etwas Blut, Platzwunde denke ich mal. Eine vierte Spur ist etwa fünf Meter weiter Rechts zum Grabstein mit der Nachricht und dann wieder zurückgegangen. Nachvollziehbar, die Sonne geht ja auch schon seit einer Weile auf. Wir müssen ihn knapp verpasst haben. Ich habe unseren Spezi von der KTU trotzdem in Zivil herbestellt. Wir sehen uns gleich.«

Kiran legte auf und grinste Clairmont verschmitzt an. »Vielleicht haben wir ja doch richtig Glück heute…«

*

Birte Halbach sah von ihrem Bericht auf und blickte in die Runde übernächtigter Gesichter.

»Bitte sagt mir, dass das nicht wahr ist. Der Hinweis kommt von zwei betrunkenen Hühnern, die ein Grab geschändet und unseren Verdächtigen in die Flucht gekotzt haben. Und unser Auftragskiller hat diesen Slapstick entweder gesehen, oder ist zumindest gewarnt, meinen Sie nicht?«

»Madame Halbach«, begann Clairmont und lächelte dabei auf unnachahmlich subtile Weise, ohne dabei auch nur im mindesten unterwürfig zu wirken. »Ich bin sicher, dass sich die Situation nicht verändert hat. Der Grabstein mit der Nachricht befindet sich einige Meter weg von diesem seltsamen Zusammenprall. Er hat die Spuren vielleicht noch nicht einmal gesehen. Im von uns beobachteten Kanal hat es keine Abbruchmeldung gegeben, weder von Lensmann, noch von den Organisatoren. Das bedeutet für mich, alles verläuft nach Plan«

»Und welcher Plan ist das, sind wir mit den Zahlen irgendwie weiter, Alenka?« Halbach liess sich vom Charme des Franzosen nicht einwickeln.

Bolko sprang ein. »Alles ermittelt. War nicht verschlüsselt, die dachten wohl nicht, dass wir oder irgendjemand an den Grabstein kämen. Die erste Reihe ist eine französische Passnummer, wohl die Zielperson. Der Mann heisst Charles Auberjonois, Berater in Brüssel für die französische Energielobby. Reihe zwei sind Koordinaten, sie weisen auf das Hotel Zentrum hin. Reihe drei ist Uhrzeit, beziehungsweise eine Zeitspanne von heute Abend sieben Uhr bis zehn Uhr. Wir haben das gecheckt und da findet ein Seminar statt, bei dem Auberjonois den Vorsitz führt. Reihe vier sind Bankonto und Leitzahl einer Bank auf den Caymans, dazu das Passwort.«

Halbach nickte beeindruckt. »Das bedeutet der Hit passiert heute Abend?«

Alle nickten.

»Und Ihr habt natürlich einen Plan, den ich nicht wirklich gut finden werde, richtig?

Erneutes Nicken. Clairmont übernahm, nachdem er Kiran angeschubst hatte.

»Wir können keinesfalls mit irgendwelchen Spezialeinheiten anrücken, das wird ein Profi sofort
bemerken. Deshalb müssen wir incognito arbeiten. Ich habe Monsieur Auberjonois unterrichtet. Er ist bereit, mit uns zusammenzuarbeiten.«

»Sie meinen, er hat kein Problem damit, dass ein Auftragskiller in seinem Seminar auftaucht und ihn und vielleicht noch ein paar andere um die Ecke bringt?«

Clairmont lächelte. »Natürlich ist er nicht gerade begeistert wegen der Veranstaltung, aber er wusste bereits von einer Bedrohung. Daher ist er eher erleichtert, weil er jetzt etwas dagegen tun kann. Und er ist ein Veteran der Legion, Angst hat er nicht. Er will nur Sicherheit für die Teilnehmer.«

»Da geht`s ihm wie mir. Wie können wir sicher sein, dass nicht das ganze Seminar gesprengt wird?«

»Ganz sicher sein können wir nicht, Madame. Aber dann ist diese Organisation, die wir beschatten,  sehr professionell und legt großen Wert auf Unauffälligkeit. Man wird jedes Aufsehen vermeiden wollen, deswegen bin ich mir sicher, dass es sich um einen gezielten Anschlag auf Auberjonois handeln wird. Mein Chef sieht das auch so. Wenn Sie möchten, kann ich ihn ja ihren Chef anrufen lassen, damit Sie abgesichert sind.«

»Sehr zuvorkommend von Ihnen, Capitaine. Aber ich kenne meine Pappenheimer hier und habe unseren Präsidenten bereits informiert. Und Ihr Chef hat auch schon dort angerufen.«

»Also haben wir freie Bahn?«, fragte Enzo, gerade noch ein Grinsen unterdrückend.

»Im Grunde schon. Aber ich werde dabeisein und das Ganze aus der Sicherheitszentrale des Hotels überwachen. Das war die Bedingung von oben.«

Bolko rieb sich die Hände. »Familienausflug. Immer wieder schön.«

*

Der Seminarraum im Hotel Zentrum füllte sich mit teuren Anzügen, umschwärmt von Kellnern, die Häppchen und Gläser entsorgten. Den ganzen Tag über hatte das Team versucht, möglichst alle Teilnehmer und Dienstleister rund um die Veranstaltung zu überprüfen. Das war mehr oder weniger gut verlaufen, nirgends war eine Warnlampe im System angegangen. Trotzdem konnte man sich nicht sicher sein. Daher hatte Halbach ihr Team quer durch die Anwesenden verteilt, zudem stand ein kleines SEK-Team in Zivil bereit. Mehr konnte man vorerst nicht tun.

Kiran, der sich als Seminarteilnehmer in die letzte Reihe der Zuhörer gesetzt hatte, beobachtete und profilierte alle Teilnehmer seit Beginn der Veranstaltung, bislang ohne jeden Erfolg. Alenka, die als Teil des Personals arbeitete, war immer wieder mit Getränken vorbeigekommen und hatte unmerklich mit dem Kopf geschüttelt. Niemand verhielt sich auffällig oder bewegte sich verdächtig.

Auberjonois betrat den Saal, dicht neben ihm Enzo, der als Bodyguard fungierte. Beide bestiegen das Podium und Auberjonois sprach die Begrüßung ins Mikrofon. Er stellte seine Co-Redner vor, einer davon Capitaine Clairmont, der als Experte für Wirtschaftspolitik an der Podiumsdiskussion teilnehmen sollte.

In Kirans Ohr erklang Halbachs Stimme, die wie angedroht die ganze Aktion von der Sicherheitszentrale aus überwachte. »Der Mann will ernsthaft über Politik diskutieren? Als Polizist? Das wird böse enden. Haben Sie Bolko gesehen, Kiran?«

Bevor Kiran den Kopf leicht schütteln konnte, erklang Bolkos Stimme. »Ich bin beim Catering im hinteren Eck gleich neben dem Veranstaltungsleiter. Alles ruhig hier, perfekter Überblick, gutes Essen.«

»Hätte ich mir denken können. Gut, alle in Position. Na dann…«

Die Veranstaltung begann. Auberjonois` Vortrag dauerte etwa eine Dreiviertelstunde, in der absolut nichts passierte. Dann begann die Podiumsdiskussion.

Kiran hatte inzwischen geistig die verschiedensten Theorien unauffälliger Mordversuche durchgespielt und wurde zunehmend ungeduldig, als ein Zuhörer eine Frage an Clairmont richtete und der auf Englisch antwortete.

Noch während Kiran die Eloquenz seines Kollegen bewunderte, erklang ein schrilles Pfeifen aus dem Lautsprecher. Ein Tontechniker betrat die Bühne, ging zu Clairmont und nestelte an dessen Mikrofon. Im nächsten Moment überschlugen sich die Ereignisse.

Enzos Arm schoss nach vorne und stieß den Tontechniker um. Der rollte sich im Fallen ab und warf seinen Arm in einer Schleuderbewegung nach vorne. Was immer er geworfen hatte, schien aber vom ebenfalls blitzschnell reagierenden Clairmont abgefangen worden zu sein, denn der Tontechniker drehte sich um und sprintete durch den Mittelgang, direkt Richtung Kiran.

Kiran atmete ruhig, sah den Angreifer wie in Zeitlupe laufen und trat im richtigen Moment wuchtig zu, direkt ins Kniegelenk des Attentäters. Der flog zur Seite, rappelte sich sofort auf, doch Kiran war schon über ihm. Der Handkantenschlag ging ins Leere, Kiran griff sich das Handgelenk, verdrehte den Arm und setzte zugleich einen Fusstritt in den unteren Rücken. Der Atem seines Gegners entwich pfeifend.

Dann waren Bolko und Enzo zur Stelle, Alenka sicherte mit gezogener Waffe die Szene, Clairmont hatte Auberjonois unterdessen in den Nebenraum verfrachtet. Nach einer kurzen Ewigkeit ertönte in das Chaos der verwirrten Gäste hinein wieder Halbachs Stimme in den Ohren des Teams und rief das SEK-Team zum Abtransport des Gefangenen.

Während der Veranstaltungsleiter die Gäste beruhigte und vergeblich aufforderte, ihre Handys abzuschalten und auf Benachrichtigungen der Netzwelt zu verzichten, sammelte sich das Team in der Lobby und verließ ebenfalls das Hotel.

*

»Und jetzt erklären Sie mir das bitte noch einmal, Enzo. Sie haben den Attentäter an seiner unpassenden Person erkannt? Ich fand ihn völlig unauffällig.« Clairmont stellte die Frage, die ihm offenbar seit der Abschlussbesprechung auf der Seele gelegen hatte, während er der Runde neuen Wein einschenkte.

Sie saßen wieder im Lloyd`s Pub & Diner. Clairmont hatte das Stammlokal des Teams ebenfalls ins Herz geschlossen und erstaunlicherweise sogar Nestor dazu gebracht, ihn die Küche betreten und ein Coq au Vin zubereiten zu lassen. Dazu hatte er von einem Weinhändler drei Kisten feinsten Burgunderweines bestellt. Enzo prostete ihm zusammen mit den anderen zu und fand sich im Zentrum fragender Aufmerksamkeit.

»Das war kein Tontechniker. Niemals nicht. Ich habe das auch mal eine Weile gemacht. Die tragen keine Designerjeans, keine frisch gewaschenen Polohemden einer Edelmarke und sie sind auch nicht perfekt frisiert.«

»Aber das kann es doch nicht allein gewesen sein?«

»Sicher nicht. Das Pfeifen war keine richtige Rückkopplung. Die entsteht nur, wenn jemand das Mikro in den Lautsprecher hält. Das hier hat der Techniker selbst erzeugt, einfach die Höhen aufgedreht Und dann tauchen Tontechniker wegen sowas niemals auf der Bühne auf, zumindest nicht gleich. Der hier war sofort da, griff Ihnen an die Brust, der andere Arm ging in Richtung Wasserglas von Auberjonois. Da stimmte tontechnisch nichts, aber die Annäherung war perfekt. Wie gesagt, alles, nur kein Tontechniker.«

Bolko blickte sardonisch bewundernd auf seinen Untergebenen. »Soso, Bühnentechnik. Du wirst mir einiges erklären müssen, Freundchen. Das vor mir geheimzuhalten, obwohl ich seit Monaten an meinem Gitarrenverstärker verzweifle. Das wird teuer…«

Birte Halbach hatte inzwischen ihr ausgiebiges Telefonat mit dem Präsidenten beendet, der immer genau dann anzurufen schien, wenn das Team einen abgeschlossenen Fall im Lloyd`s feiern wollte.

»Alle mal herhören. Unser Auftragskiller wird gerade nach Paris verfrachtet. Gestern ist auch der bescheuerte Anwalt bei einem Arzt in Neuruppin aufgetaucht, inzwischen sitzt er mit schwerer Gehirnerschütterung bei unseren Doktoren im Bau. Alles verpackt also. Es gibt ein Lob von beiden Präsidenten unserer Polizeidienste, weiter oben will niemand was davon wissen. Den Bericht schreibt unser Kollege hier in Frankreich. Was den Rest von Euch betrifft, Ihr hattet zwei ereignislose Tage. Das gilt vor allem für Gespräche in der Kantine. Und jetzt her mit dem Wein.«

»Wohl gesprochen Madame.« Clairmont stand auf und hob das Glas. »Meine lieben Freunde, s war mit eine Freude, Sie alle kennenzulernen.«

Kiran prostete mit den anderen, aus den Lautsprechern ertönte ein schwungvoller Fusionjazz und Kiran sah Alistair von der Bar herüberkommen.

»Ich habe gehört, es gibt gallischen Hahn in Wein und was zu feiern?«

»Aber ja, Monsieur. Setzen Sie sich zu uns«

»Merci mille fois, Capitaine. Na dann erzählen Sie mal…«

Kategorien: Shortcrimes

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